Stirbt der letzte Funken Toleranz auf dem Balkan?

Verhandlungen zu einem möglichen Dayton II, Prozessauftakt gegen Karadžić – man sollte meinen, Bosnien-Herzegowina sei in aller Munde.

Eine aktuelle Reise nach Sarajevo zeigt ein ganz anderes Bild:
Als 1995 in Dayton die Kriegsparteien Bosnien-Herzegowinas und die Amerikaner zusammen saßen, haben die Gespräche Bosnien-Herzegowina den Frieden gebracht – ja! Und sonst?
15 Jahre nach Kriegsende zeigt eine Fahrt durch Sarajevo scheinbare Normalität: Gut gekleidete Menschen im Stadtzentrum, reger Autoverkehr auf den Straßen. Aber: Keine Spur von Aufschwung, keine Spur von Optimismus, wenig Hoffnung, im Gegenteil: Immer noch Ruinen, Einschüsse, Brandwunden!

Nach den Verhandlungen in Dayton hat die Welt Bosnien-Herzegowina allein gelassen, allein gelassen mit allen Problemen:

  • Politisch ist nichts gelöst: Die faktische Teilung des Landes in zwei Teilrepubliken („Republika Srpska“ = serbisch und Föderation von Bosnien und Herzegowina = bosniakisch-kroatisch) hat den vor dem Krieg nie gekannten Nationalismus im Lande weiter geschürt. Obwohl rechtlich möglich, würde kein bosnisch-kroatischer Skiläufer über die ehemals olympische Herrenskistrecke wedeln, die heute in der Republika Srpska liegt, umgekehrt besucht natürlich kein Serbe das ehemals olympische Skigebiet für Damen, liegt es doch in der Föderation, kaum acht Kilometer von der Herrenstrecke entfernt.
  • Ökonomisch hat sich nichts entwickelt, obwohl Bosnien-Herzegowina reich an Wasser und alternativen Energiequellen ist.
  • Sozial hat sich alles verschlechtert: 50 % der Bevölkerung haben nicht das (international definierte) Mindesteinkommen von 3,- € pro Tag zur Verfügung; die Arbeitslosigkeit steigt faktisch über 40 %; der minimale Sozialetat des Staates reicht gerade für eine geringste Unterstützung der Kinder aus; es gibt kaum (Wohlfahrts-) Organisationen, die sich um die große Zahl der Bedürftigen kümmern. Hilfe kommt fast nur noch von selbstlosen Idealisten wie z.B. der deutschen Ingrid H.: Sie wollte mit Hilfe eines privaten deutschen Vereins die Bildungssituation der Menschen im Lande verbessern; nachdem ihr die EU den Geldhahn abgedreht hat, reichen ihre Mittel und die der Sponsoren gerade mal für Einzelhilfen gröbsten materiellen Elends in den Straßen von Sarajevo.
  • Kulturelle und zivilgesellschaftliche Ansätze findet man nur noch vereinzelt (Filmfestival von Sarajevo, Jazztage).

Ja, selbst die größte Leistung dieser historisch bedeutenden Stadt steht auf des „Messer’s Schneide“: Jahrhunderte lang haben die verschiedenen Religionsgemeinschaften (Orthodoxe, Muslime, Christen und Juden) in Sarajevo vorgelebt, wie nicht nur ethnische, sondern auch religiöse Toleranz aktiv gelebt werden kann. Nunmehr haben radikal-religiöse Führungen aus dem Ausland erkannt, dass diese einst so tolerante Stadt ein fruchtbares Akquisitionsareal für Fundamentalisten sein kann.

Ansonsten aber bewegt sich nichts – 15 Jahre lang. Dayton hat – vielleicht in guter Absicht – die Strukturen verfestigt:

  • Die politische Struktur behindert einen ökonomischen Neuanfang. Ein Staatsaufbau, der für den gemeinsamen Staat, die darunter agierenden zwei „Entitäten“ (= Teilrepubliken) und die wiederum darunter angesiedelten zahlreichen Kantone jeweils eigene Regierungen, eigene Parlamente und eigene Gesetzeszuständigkeiten vorsieht, kann nicht sinnvoll sein. Welcher Investor will denn da die unendliche Genehmigungskette überleben?
  • Ein Staat, der die Greueltaten der Kriegszeit nicht aufarbeitet und kommentarlos zum Alltag übergegangen ist, muss sich nicht wundern, dass mafiöse Kriegsgewinnler nach wie vor sehr sicher, ja sichererer und reicher denn je, an den wichtigsten Schaltstationen des Landes sitzen (daran ändern auch die jetzt eingeleiteten Ermittlungen gegen den Ministerpräsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, nichts).
  • Ein Staat, der in den Strukturen von Dayton verharrt, wird nie das Vertrauen und die zivilgesellschaftliche Unterstützung gewinnen, die ein Staat zum Wachsen und Gedeihen benötigt. Er bestätigt vielmehr jene, die behaupten, dass Karadžić und seine Schergen letztlich mit internationaler Hilfe doch das durchgesetzt haben, was ihr eigentliches Ziel war, nämlich die faktische ethnische Teilung des Landes.
  • Wenn nach 15 Jahren der Staat seine finanziellen Mittel überwiegend für parlamentarische und staatliche Gehälter und für Rentenzahlungen an die mächtigen Veteranenverbände ausschüttet, wundert den Besucher die erlebte Ruhe in der Gesellschaft.

Und die internationalen Organisationen? 1995, als mit ihrer Hilfe der Frieden ins Land kam, sah die Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina in ihnen die Garanten für eine friedliche, tolerante und erfolgreiche Zukunft des Landes. Bis zur Jahrtausendwende haben die internationalen Organisationen das Land überschüttet mit allen möglichen Hilfen: finanziellen, Truppen, Beratern und Gutmenschen. In der Zwischenzeit ist die „internationale Hilfskolonne“ weiter gezogen; nur wenige sind geblieben, nur Weniges hat gefruchtet.

Langfristige Zukunftsentwürfe rücken immer weiter in die Ferne, obwohl sie für die Bevölkerung oft die einzige Hoffnung sind, z.B. der Beitritt des Landes zur Europäischen Union. Obwohl die EU die Beitrittsbedingungen für das Land immer stringenter abverlangt (u.a. gravierende Verfassungsänderungen, die das Land aufgrund der ethnischen und religiösen „Ausdifferenzierung“ in Folge von Dayton kaum von Innen heraus wird regeln können), klammern sich die Menschen verzweifelt an dieses „EU-Hoffnungsseil“. Selbst die gerade stattfindende Diskussion in der EU über Reiseerleichterungen für die Nachbarstaaten Kroatien und Serbien, nicht jedoch für Bosnien-Herzegowina, kann ihnen anscheinend diese Hoffnung nicht nehmen: Auch wenn einige wenige kritische Geister fragen, warum die EU die „Täter“ mit Reiseerleichterungen für die EU „belohnt“, die Opfer aber erneut abstraft, gibt die Mehrheit die Hoffnung auf einen EU-Beitritt nicht auf, „vielleicht in 15, 20 Jahren“.

Ob das Land so lange noch eine Chance hat? Schon reden nationalistische Kräfte in der Republika Srpska von einer Abspaltung und einem Anschluss ihrer Teilrepublik an Serbien, obwohl die jetzige Verfassung einen solchen Schritt über eine Volksabstimmung nicht vorsieht. Bringen die Verhandlungen zu einem Dayton II Lösungsansätze? Dann aber müssten sich die internationalen Kräfte (EU, Amerikaner, internationale Polizeikommission, EUFOR) aus ihrer passiven Rolle herausbewegen und die von ihnen mitbewirkten statischen Strukturen auflösen helfen. Bosnien-Herzegowina wird das, anders als die Internationalen erwarten, nicht intern und aus sich heraus lösen können. Natürlich werden auch die weit über 40.000 ins Ausland geflüchteten Bosnien-Herzegowiner mithelfen können und müssen: mit Kapitaltransfers in die alte Heimat, aber auch durch persönliche Rückkehr.

Nur wenn dies alles zusammenwirkt, hat dieses Land mit seiner unendlichen, vorbildlichen Toleranz eine Zukunft. Nach 15 Jahren Stillstand spüren es die Menschen dort. Um ihre Hoffnung und ihre Stimmung zu stabilisieren, brauchen sie ein kurzfristig realisierbares Zukunftsmodell – und, wenn möglich, als kurzfristigen Hoffnungsschimmer für alle, den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika!

Ernst Gerlach, Oberhausen
Oktober 2009

1 Kommentar

  1. Roland Matzdorf

    Antwort auf Ernst Gerlach von Roland Matzdorf

    Liebe Freunde,

    ich beziehe mich auf Ernst Gerlachs Reiseeindrücke und seine Schlussfolgerungen, die ich – ebenso wie die meisten von euch – grundsätzlich teile. Gleichwohl ist mir der Tenor doch zu hoffnungslos und negativ und deshalb will ich aus meiner Sicht einige Hinweise und Einschätzungen anfügen, die zwar nicht die Richtung und Schwerpunktsetzung der Analyse verändern, aber zumindest ergänzt werden sollten.

    Ich habe die Einschätzung in guter Erinnerung, dass trotz aller unbestrittenen Probleme und Schwierigkeiten durchaus auch eine wachsende Anzahl von Menschen in beiden Entitäten (was für ein schrecklicher Begriff!) sieht, dass dieser ethnisch getrennte Weg in die Sackgasse führt und deshalb einen gesamtbosnischen Weg unterstützt. Der bosnische Referent Edhem Musikic sprach von einem Potential von ca. 20%, das ggf. hierfür in Wahlen zu mobilisieren wäre.
    Die EU hat ein nicht zu unterschätzendes Druckpotential mit der Mitgliedschaft und den daran hängenden Aufnahmekonditionen. Weder Russland noch China sind als starke wirtschaftliche Partner eine Alternative zur EU für Bosnien und Herzegowina und deshalb werden auch die Vertreter der Wirtschaft Druck auf die politisch Verantwortlichen ausüben, damit das Land am Rande Europas nicht absäuft und weder direkte Unterstützung noch die Marktzugänge der EU erhält.

    Ich habe in den Augen der Menschen in der Stadt keine Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gesehen, wie es angesichts der desolaten politischen und wirtschaftlich-sozialen Lage anzunehmen gewesen wäre; vielmehr war das Leben und waren die Leute in der Stadt sehr geschäftig (ohne Touristen!). Klar, das waren nur die Hauptstädter und auf dem Land sieht es sicher anders aus, aber wenn die Körpersprache nicht täuscht, ist doch auch Hoffnung sichtbar.

    Insgesamt kann und will ich einfach nicht glauben, dass vernünftige und gebildete Menschen diesen Spaltungsprozess noch weiter vertiefen und nicht wieder an die alte Tradition des guten Miteinanders anzuknüpfen vermögen… 40% Mischehen und 400 Jahre der friedlichen Koexistenz können doch nicht spurlos an den Leuten vorbei gegangen sein, ohne nachhaltige Spuren zu hinterlassen…oder?

    In der Hoffnung auf die Vernunft und die Liebe

    grüße ich euch herzlich

    Roland Matzdorf, Essen
    November 2009

    Antworten

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